03 – 2015
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Es geht eben nicht um Sterbebegleitung. Hier sind wir auf
einem gutenWeg.
Aktuell werden das Thema Sterbebegleitung und der ärztlich
assistierte Suizid in Deutschland kontrovers diskutiert.
ImNovember sollen Entscheidungen getroffen werden.
Wie ist Ihre Einschätzung?
VOLTZ:
Es gilt zu schauen, was wir tun können, bevor der Ruf
nach ärztlich assistiertem Suizid laut wird.Wichtig wäre erst
einmal, dass wir eine flächendeckende palliativmedizinische
Versorgung für alle Menschen in Deutschland haben.Wir
haben aber auch schon ein sehr gutes System und ich hoffe
sehr, dass wir gesellschaftlich nie zum von der Mehrheit aner-
kannten ärztlich assistierten Suizid als Regelleistung kommen.
Es wird immer einen Graubereich und Einzelfälle geben – aber
das sollte man auf keinen Fall institutionalisieren. Denn dann
wird es zu einem offiziellen Angebot der Gesellschaft. Das
bringt die Gefahr mit sich, dass Druck auf Sterbende ausgeübt
wird oder sie sich unter Druck gesetzt fühlen.Wir brauchen
aber auch keine Verschärfung des geltenden Strafrechts. So,
wie es im Augenblick geregelt ist, ist es in unseren Augen gut.
Wie kommt es, dass unheilbar kranke Menschen sich vorzeitig
den Tod wünschen?
VOLTZ:
Die Angst vorm Sterben ist ja erst einmal etwas ganz
Natürliches und völlig verständlich. Den Todeswunsch gibt es
in einzelnen Fällen, also denWunsch, noch früher zu sterben,
als die Krankheit es fordern würde. Das verändert sich aber
auch oft über die Zeit der Erkrankung. Hier gilt es zu schauen:
Wo liegen die Hintergründe?Was können wir tun?Wo können
wir noch unterstützen?Wir haben gelernt, dass manche Men-
schen ihr eigenes Leben nicht mehr als lebenswert einschätzen.
Es hängt viel davon ab, ob ein Mensch in der Lage ist, Bezie-
hungen aufzubauen.Wer sein Leben lang skeptisch war und
gekämpft hat, der wird höchstwahrscheinlich auch so sterben.
Es muss aber nicht sein, dass Menschen über das Thema Suizid
nachdenken, weil ihre Symptome nicht gut eingestellt sind.
Niemand muss heute mehr unerträgliche Schmerzen leiden.
Wie sieht es in Deutschland dennmit der Versorgungmit Palli-
ativmedizin aus? Gibt es genug Ärzte und Palliativstationen?
VOLTZ:
Kenntnisse in Palliativmedizin sollte jeder Arzt und
jede Pflegekraft haben. Aktuell gibt es hier noch Defizite, aber
der Stand wird immer besser. Seit 2014 ist Palliativmedizin ein
Palliativmedizin hilft dabei,
die Schmerzen Schwerkranker zu lindern –
und umfasst noch viel mehr.
Professor Dr. Raymond Voltz, 52, zählt zu den Pionieren
der Palliativmedizin in Deutschland. 1994 war er eines der
Gründungsmitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativ-
medizin. Seit 2004 hat er einen Lehrstuhl für Palliativmedizin
an der Uniklinik Köln,wo er auch Direktor des Zentrums für
Palliativmedizin ist, und wo 1983 die erste Palliativstation in
Deutschland eingerichtet wurde. Im Interview spricht Voltz
über die schmerzlindernde, aktive und ganzheitliche Behand-
lung und Begleitung unheilbar kranker und sterbender
Menschen – und über den Fokus auf die Lebensqualität.
WANN KOMMT DIE PALLIATIVMEDIZIN ZUM EINSATZ?
VOLTZ:
Wenn eine Krankheit trotz aller Bemühungen weiter
fortschreitet und leider nicht mehr zu heilen ist, gilt es, im
Sinne und möglichst gemeinsammit dem Betroffenen zu
überlegen, was sinnvoll ist. Macht der Einsatz lebensverlän-
gernder Maßnahmen Sinn – oder sollte es nicht eher um
die Lebensqualität gehen in der Zeit, die ihm noch bleibt?
Wir wissen aus Studien, dass 95 Prozent der Menschen
sagen, dass ihnen die Lebensqualität wichtiger ist. Nur
fünf Prozent wollen, dass die Mediziner auf Teufel komm
raus alles versuchen, was machbar ist. Dabei darf man die
möglichen Nebenwirkungen, etwa einer Chemotherapie,
nicht unterschätzen. Natürlich machen lebensverlängernde
Maßnahmen in vielen Situationen auch Sinn – aber man
muss wissen, wann.
WAS HEISST LEBENSQUALITÄT IM FALL EINER UNHEILBAREN
KRANKHEIT?
VOLTZ:
Die Palliativmedizin ist keine rein ärztliche Aufgabe.
Man muss das ganze multiprofessionelle Team dahinter
sehen: die Ärzte, die Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Psycho-
logen, Kunsttherapeuten, Musiktherapeuten, Sozialarbeiter,
Seelsorger, die ehrenamtlichen Mitarbeiter – die sind ganz
wichtig! – bis hin zumTherapiehund, den wir hier bei uns im
Mildred-Scheel-Haus an der Uni-Klinik haben. Sie alle tragen
zur Lebensqualität bei. Und es ist wichtig, dass es nicht nur
umden Betroffenen geht, sondern dass auch die Angehörigen
einbezogen und begleitet werden. Da entsteht oft viel Druck.
Die Angehörigen meinen es oft gut, wenn sie zum Beispiel
sagen „Du musst doch ’was essen“. Es ist wichtig, dass man
offen über alles redet und dass Angehörige zum Beispiel
verstehen, dass der Körper etwas nicht mehr verdauen kann.
Ein Aufklärungsgespräch hat oft eine sehr befreiendeWirkung
und ist eine große Entlastung.
Wann beginnt die palliativmedizinische Behandlung?
VOLTZ:
Hier geht es nicht nur um die allerletzte Lebensphase.
Palliativmedizin, die zur normalen medizinischen Behand-
lung dazukommt, sollte spätestens im letzten Lebensjahr
zum Einsatz kommen. Ob dieses dann tatsächlich 12 Monate
umfasst – oder weniger oder mehr –, das ist individuell
verschieden. Es ist wichtig, sich frühzeitig mit diesemThema
zu befassen und für sich mögliche Entscheidungen zu treffen.
Die Sicht auf die Palliativmedizin hat sich aber international
und auch in Deutschland Gott sei Dank dramatisch verändert:
Pflichtfach imMedizinstudium. Ärzte können Fortbildungen
machen und für Pflegekräfte gibt es einen 160-Stunden-
Ausbildungskurs. Auf europäischer Ebene haben wir die
European Palliative Care Academy. Es gibt immer mehr. Aber
für den einzelnen Patienten heißt das auch: ImMoment kann
er sich noch nicht darauf verlassen, dass die Palliativ- und
Hospizversorgung angeboten wird, wenn es für ihn Sinn
machen würde. Es hat sich schon viel getan, aber es könnte
sich eben noch mehr tun, etwa auch, ummehr Menschen zu
ermöglichen, zu Hause zu sterben. Das wünschen sich ja die
meisten. Doch im Schnitt stirbt rund die Hälfte aller Menschen
derzeit im Krankenhaus, etwa 30 Prozent in Pflegeeinrich-
tungen und etwa 30.000 in stationären Hospizen.Wir haben
schon ein sehr gutes Netz, das gewährleistet, dass nichts
gegen denWillen eines Patienten geschieht, und wir erreichen
schon sehr viele Betroffene – aber eben noch nicht alle.
WAS MUSS SICH ÄNDERN?
VOLTZ:
Im Zuge der Debatte um die Sterbehilfe wird auch
eine Gesetzesvorlage zur Verbesserung der Hospiz- und Pal-
liativsituation in Deutschland debattiert. Die Vorlage enthält
viele gute Ansätze, etwa, dass jeder Zugang zur Palliativ-
und Hospizversorgung haben soll. Aber der Gesetzentwurf
enthält auch große Lücken. So wird zum Beispiel der gesamte
Krankenhausbereich ausgeklammert. Das macht keinen
Sinn. Die meisten Menschen sterben im Krankenhaus und
die Diagnose der unheilbaren Erkrankung wird in der Regel
im Krankenhaus gestellt. Aber wir hoffen, dass sich durch die
Anhörungen und die Lobbyarbeit, die wir betreiben, hier
noch etwas verändert.
EINE FRAGE DER
LEBENSQUALITÄT
Raymond Voltz, Direktor des Zentrums für Palliativmedizin.
„NIEMAND MUSS
HEUTE MEHR
UNERTRÄGLICHE
SCHMERZEN LEIDEN.“
STICHWORT PALLIATIVMEDIZIN
Der Begriff leitet sich ab vom lateinischen „palliare“ – „mit
einem Mantel bedecken“. Im Zentrum steht die Linderung
von Schmerzen bei Schwerkranken und Sterbenden, um
ihnen ein größtmögliches Maß an Lebensqualität zu erhalten.
Die Palliativmedizin umfasst aber wesentlich mehr als die
Behandlung mit Medikamenten. Die Weltgesundheitsorga-
nisation und die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin
definieren sie als „aktive, ganzheitliche Behandlung von
Patienten mit einer voranschreitenden, weit fortgeschrittenen
Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der
Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative
Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen,
anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen
und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt“.
Erzbistum
Köln –
Interview
INTERVIEW: HILDEGARD MATHIES
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